Das Recht auf Fami­li­en­le­ben gilt nicht für alle

Laut einem Urteil des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te ver­letzt eine pau­scha­le War­te­frist von drei Jah­ren für den Fami­li­en­nach­zug die EMRK

Das Recht auf Ach­tung des Fami­li­en­le­bens ist sowohl in Men­schen­rechts­kon­ven­tio­nen (bspw. Art. 8 EMRK, Art. 8 KRK), als auch in der Bun­des­ver­fas­sung (Art. 13 und 14 BV) ver­an­kert. Die Schweiz aner­kennt damit die Wich­tig­keit der Fami­lie für alle Men­schen, und ver­pflich­tet sich, das gemein­sa­me Fami­li­en­le­ben zu schüt­zen. Für geflüch­te­te Men­schen wird das Recht auf Fami­lie in der Schweiz aber vor allem dadurch stark ein­ge­schränkt, dass der Fami­li­en­nach­zug hohe Hür­den mit sich bringt (sie­he bspw. die doku­men­tier­ten Fäl­le der SBAA Nr. 378344 und 338). So müs­sen dafür unter­schied­li­che Kri­te­ri­en erfüllt sein; die nach­zie­hen­de Per­son darf bei­spiels­wei­se kei­ne Sozi­al­hil­fe bezie­hen und muss über eine Woh­nung ver­fü­gen, in der die gan­ze Fami­lie unter­ge­bracht wer­den kann. Ein Anspruch auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung besteht zudem nur für Kern­fa­mi­li­en, nicht aber für den Nach­zug von Geschwis­tern oder Eltern (sog. «umge­kehr­ter Fami­li­en­nach­zug» (sie­he Fäl­le Nr. 372 und 315). Zusätz­lich wird unter­schie­den, ob die in der Schweiz anwe­sen­de Per­son als Flücht­ling aner­kannt und damit eine Auf­ent­halts­be­wil­li­gung (B) besitzt, oder nur vor­läu­fig auf­ge­nom­men wur­de (Sta­tus F). So unter­lie­gen vor­läu­fig auf­ge­nom­me­ne Per­so­nen nebst den erwähn­ten Anfor­de­run­gen zusätz­lich einer drei­jäh­ri­gen War­te­frist (Art. 86 Abs. 7 AIG; sie­he Fäl­le 374 und 344).

Das Urteil und sei­ne Folgen

In einem Urteil vom 9. Juli 2021 kam die Gros­se Kam­mer des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te (EGMR) nun zum Schluss, dass eine War­te­frist für den Fami­li­en­nach­zug von Per­so­nen mit vor­über­ge­hen­dem Schutz­sta­tus höchs­tens zwei Jah­re betra­gen darf. Eine pau­scha­le War­te­zeit von drei Jah­ren, wie sie Art. 86 Abs. 7 AIG vor­sieht, ist somit menschenrechtswidrig.

Im erwähn­ten Urteil han­delt es sich um einen syri­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen, der 2015 in Däne­mark Asyl bean­tragt hat­te und dar­auf­hin einen vor­über­ge­hen­den Schutz­sta­tus erhielt. Sein Antrag auf Fami­li­en­nach­zug sei­ner Frau und Kin­der, die sich noch in Syri­en befan­den, wur­de dar­auf­hin abge­lehnt, da das däni­sche Gesetz – wie die Schweiz – eine War­te­frist von drei Jah­ren vor­sieht. Der Ein­zel­fall wur­de nicht geprüft. Nach meh­re­ren abge­lehn­ten Beschwer­den wand­te sich der Betrof­fe­ne an den EGMR. Er mach­te gel­tend, dass der däni­sche Staat dadurch gegen Art. 8 EMRK (Recht auf Ach­tung des Pri­vat- und Fami­li­en­le­bens) und Art. 14 EMRK (Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bot) ver­stos­sen habe.

Der EGMR führt in sei­nem Urteil aus, dass Ver­trags­staa­ten zwar grund­sätz­lich das Recht besit­zen, War­te­fris­ten für Fami­li­en­zu­sam­men­füh­run­gen ein­zu­füh­ren, um die Ein­rei­se und den Auf­ent­halt von Migrant:innen zu steu­ern und zu begren­zen. Gleich­zei­tig hält er aber fest, dass die War­te­fris­ten nicht unli­mi­tiert gel­ten kön­nen und ein Fami­li­en­nach­zug nur für maxi­mal zwei Jah­re aus­ge­setzt wer­den kön­ne. Danach wür­de zwar kein Anspruch auf Fami­li­en­nach­zug bestehen, jedoch müs­se der Ein­zel­fall geprüft wer­den. Die Zwei­jah­res-Frist hält der EGMR für legi­tim, da sie den EU-Richt­li­ni­en betref­fend Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung ent­spricht (Art. 8 Richt­li­nie 2003/86/EG vom 22. Sep­tem­ber 2003). Zudem macht er im Urteil dar­auf auf­merk­sam, dass Fami­li­en auch schon wäh­rend der Flucht und des Auf­ent­halts im Ziel­land bis zum tat­säch­li­chen Nach­zug der Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen getrennt leben, womit die tat­säch­li­che Tren­nung der Fami­lie stets län­ger dau­ert als die Wartefrist.

Obwohl das Urteil des EGMR für die Schweiz nicht ver­bind­lich ist, wür­de eine ähn­li­che Beschwer­de aus der Schweiz zum sel­ben Ergeb­nis füh­ren. Die pau­scha­le War­te­frist von drei Jah­ren, für wel­che das Ausländer:innen- und Inte­gra­ti­ons­ge­setz (AIG) kei­ne Aus­nah­men vor­sieht, ist damit gemäss EGMR unzu­läs­sig. Die Schweiz darf höchs­tens eine pau­scha­le Frist von zwei Jah­ren anset­zen, danach muss jeder Ein­zel­fall geprüft wer­den (sie­he auch Bei­trag von humanrights.ch vom 26.7.2021).

Kri­tik und Forderungen

Das Urteil des EGMR und damit die fak­ti­sche Her­ab­set­zung der drei­jäh­ri­gen auf eine maxi­mal zwei­jäh­ri­ge War­te­frist für den Fami­li­en­nach­zug sind zu begrüs­sen. Die SBAA kri­ti­siert aber grund­sätz­lich, dass über­haupt eine War­te­frist für die Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung für vor­läu­fig Auf­ge­nom­me­ne besteht. Damit fin­det eine kla­re Ungleich­be­hand­lung von aner­kann­ten Flücht­lin­gen und vor­läu­fig auf­ge­nom­me­nen Ausländer:innen statt. Gemäss der Schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­hil­fe (SFH) zei­gen wis­sen­schaft­li­che Stu­di­en, dass das all­täg­li­che Fami­li­en­le­ben eine erfolg­rei­che Inte­gra­ti­on för­dert (SFH Posi­ti­ons­pa­pier Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung, April 2021, S. 2). Die Erfah­rung zeigt, dass auch vor­läu­fig Auf­ge­nom­me­ne lang­fris­tig in der Schweiz blei­ben. Daher for­dert die SBAA, dass auch ihre Inte­gra­ti­on rasch geför­dert und die Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung ein­fa­cher und schnel­ler ermög­licht wird. Die SBAA bedau­ert, dass der EGMR in sei­nem Urteil unter­schei­det zwi­schen Per­so­nen, die auf­grund indi­vi­dua­li­sier­ter Bedro­hung Schutz suchen (aner­kann­te Flücht­lin­ge) und Per­so­nen, denen auf­grund all­ge­mei­ner Bedro­hung Schutz gewährt wur­de (in der Schweiz: vor­läu­fig Auf­ge­nom­me­ne). Das Recht auf Fami­li­en­le­ben soll­te für alle gel­ten, unab­hän­gig von ihrem Aufenthaltsstatus.