Ende November 2020 veröffentlichte die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) ihren Fachbericht «Vernachlässigtes Kindeswohl». Die Resonanz war und ist gross. Zahlreiche Medien nahmen den Bericht zum Anlass, die darin beschriebenen Missstände zu thematisieren (siehe Medienspiegel). Im Nationalrat wurden ein politisch breit abgestütztes Postulat sowie eine Interpellation eingereicht. Es soll genauer analysiert werden, in welchen Bereichen des Asyl- und Ausländerrechts Handlungsbedarf bezüglich des Kindeswohls besteht. Der Bericht hat also sein Ziel erreicht und eine intensiv geführte Diskussion sowie erste, konkrete Verbesserungen angeregt.
An dieser Stelle soll nun in einer losen Serie anhand von ausgewählten Beispielen erläutert werden, wer in der Schweiz für die Einhaltung der Kinderrechte verantwortlich ist. Die einfache Antwort lautet: Alle. Zumindest alle staatlichen Akteure. Denn gemäss Art. 3 Abs. 1 der Kinderrechtskonvention müssen alle das übergeordnete Kindesinteresse bei ihren Entscheidungen vorrangig berücksichtigen.
Wie aber sind Aufsicht und Verantwortung genau geregelt? Die Krux liegt bekanntlich im Detail. Je nach Bereich gibt es unterschiedliche Antworten. Hier ein erstes, aktuelles Beispiel:
Aufsicht über Heime für unbegleitete Minderjährige
Grundsätzlich müssen alle Einrichtungen, die Minderjährige aufnehmen, über eine Bewilligung verfügen und stehen demnach unter Aufsicht. Grundsätzlich soll die Kindesschutzbehörde vor Ort diese Aufgabe übernehmen. Sie kann aber auch an eine andere geeignete Behörde übertragen werden. So will es die Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern, die auf kantonaler Ebene unterschiedlich konkretisiert ist. Wenn aber ein Heim unter der besonderen Aufsicht einer anderen Behörde steht, kann es von der Bewilligungspflicht ausgenommen werden. In der Praxis bedeutet dies, dass im Asylbereich Heime für unbegleitete Minderjährige teilweise von den Behörden beaufsichtigt werden, die z.B. für die Sicherheit oder Sozialhilfe zuständig sind (siehe z.B. Stadt Zürich).
Dabei stellt sich die Frage, ob diese Stellen und deren Mitarbeitenden geeignet sind, eine sachkundige Aufsicht und damit die Einhaltung der Vorgaben bezüglich Kindesinteresse sicherzustellen. Dies umso mehr, zumal dieselben Verwaltungsorgane oft auch für die Finanzierung der Einrichtungen zuständig sind. Kann z.B. eine Person die sich normalerweise mit der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen, der Auszahlung von Sozialhilfe oder ähnlichen Themen beschäftigt, gleichzeitig beurteilen, ob ein Kind die Betreuung und Unterstützung erhält, die es für eine gesunde Entwicklung braucht? Die «besondere Aufsicht» hat eine Ungleichbehandlung von Kindern aufgrund ihrer Herkunft und ihres Aufenthaltsstatus zur Folge.
Im November 2020 haben nun die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) und die Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) gemeinsame Empfehlungen zur ausserfamiliären Unterbringung publiziert. Darin werden auch Bewilligung und Aufsicht von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe – sprich Heime – behandelt. Mindestens drei Punkte geben dabei Anlass, die oben beschriebene Problematik neu anzugehen:
Erstens wird nochmals verdeutlicht, dass die Fachpersonen, die mit der Bewilligung und Aufsicht betraut sind, unabhängig, neutral und fachkundig handeln müssen. Um dies erfüllen zu können, müssen sie Kompetenzen im Bereich der Pädagogik, der Sozialen Arbeit, der Betriebswirtschaft und der Kommunikation mitbringen (Ziff. 9.1, S. 39). Dies ist per se nichts Neues. Im Asylbereich stellt sich jedoch wie gesagt die Frage, ob diese Anforderungen erfüllt werden. Mitarbeitende von Migrations- und Sozialämtern haben nicht das gleiche Wissen und den gleichen Fokus bezüglich Kindesschutz wie Fachpersonen bei den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden oder Jugendämtern.
Zweitens sei gemäss einer expliziten Empfehlung «zu prüfen, ob die mit der Aufsicht und der Bewilligung verbundenen Aufgaben sinnvollerweise bei einer einzigen Behörde gebündelt werden können» (Ziff. 9.1, S. 40). Dabei ist zwar nicht explizit die Rede von Fällen der «besonderen Aufsicht». Die Begründung für die Empfehlung ist in Sachen Kindesinteresse und Asyl jedoch allgegenwärtig: die Gefahr der «Verantwortungsdiffusion». Mit einer Bündelung der Aufsicht bei einer fachlich für die Einhaltung der Kinderrechte zuständigen Stelle wäre viel für die betroffenen Kinder und Jugendlichen getan.
Drittens – und dabei handelt es sich weniger um ein Thema der Verantwortung als vielmehr um eine sehr praxisnahe Forderung – empfehlen die SODK und die KOKES, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auch nach dem Austritt aus einem Heim eine Ansprechperson zur Seite gestellt erhalten (Ziff. 6.4.3, S. 31). Dabei geht es um ein Thema, das unbegleiteten Minderjährigen schon lange Schwierigkeiten bereitet und unter dem Titel «Leaving Care» generell mehr Aufmerksamkeit verdient. Beim Übergang in die Selbstständigkeit brauchen viele Jugendliche und junge Erwachsene unabhängig von ihrer Herkunft mehr Unterstützung.
Wie gesagt handelt es sich bei dieser Aufzählung nur um eine Auswahl der gemachten Empfehlungen. Diese können und sollen ein Anstoss sein, die effektive und konkrete Verantwortung für die Einhaltung der Kinderrechte im asyl- und ausländerrechtlichen Bereich neu zu denken, auch wenn – oder gerade weil – sie nicht explizit auf diesen ausgerichtet sind. Denn Kinder bleiben Kinder, unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus.