Im Jahr 2020 sind insgesamt 133 minderjährige Asylsuchende aus Bundesasylzentren (BAZ) verschwunden, oder gemäss Staatssekretariat für Migration (SEM) «unkontrolliert abgereist». Im ersten Quartal 2021 waren es 39 (Stand April 2021). Eine europäische Studie hat zwischen 2018 und 2020 rund 18’000 verschwundene geflüchtete Minderjährige europaweit und mindestens 944 in der Schweiz registriert (Radio RaBe Info vom 14.06.2021: «18’000 vermisste geflüchtete Kinder in Europa»; Lost in Europe). Diese Zahlen sind besorgniserregend, wenn man bedenkt, dass es sich dabei um 12- bis 18-jährige Kinder und Jugendliche handelt. Gründe für ihr Verschwinden können divers sein. Oft ist es unklar, ob sie nur für kurze Zeit dem BAZ fernbleiben, zu Verwandten weiterreisen, aus Angst vor einer Ausschaffung untertauchen oder gar Opfer von Kinder- bzw. Menschenhandel werden.
Was sagen die Zahlen zu den «unkontrolliert abgereisten Minderjährigen» wirklich aus? Was passiert, wenn ein Kind aus einem BAZ verschwindet und was wird unternommen, um dem Verschwinden weiterer Kinder vorzubeugen? Im zweiten Teil der losen Serie zum Thema «Verantwortung für die Einhaltung der Kinderrechte» geht die SBAA diesen Fragen nach. Die erwähnten Zahlen gehen aus einer Statistik des SEM hervor, welche die SBAA auf Anfrage erhalten hat. Weitere Informationen stammen aus einer Anfrage beim SEM sowie von weiteren im Asylbereich tätigen Organisationen.
Statistische Erfassung von vermissten Kindern
In der Schweiz fehlt es an einer systematischen Datenerhebung zur Anzahl vermisster Kinder. Gemäss NGO-Bericht des Netzwerks Kinderrechte Schweiz zur Umsetzung der UNO-Kinderrechtskonvention (KRK) betrifft dies alle Minderjährigen, die aus Familien oder Betreuungssituationen weglaufen oder entführt werden (S. 20; siehe auch Missing Children Switzerland: «das Problem in der Schweiz»).
Hinsichtlich Kinder aus dem Asylbereich zeigte sich die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) im Bericht von 2018 besorgt, dass die Zahlen verschwundener Kinder aus den Bundesasylzentren nicht erfasst würden. Dass das SEM die «unkontrolliert abgereisten Minderjährigen» aus den BAZ nun statistisch erfasst, ist somit zu begrüssen. Die Zahlen sagen aber nur wenig aus. In der Statistik des SEM wird die Anzahl verschwundener Minderjähriger pro Quartal und pro Asylregion erfasst. Es kann dabei nicht ausgeschlossen werden, dass ein*e Minderjährige*r mehrfach gezählt wird, wenn sie oder er wiederholt verschwindet und wieder auftaucht. Die Statistik gibt ebenso wenig Aufschluss darüber, wie alt die Kinder und Jugendlichen genau sind, aus welchen Herkunftsländern sie stammen oder welchen Aufenthaltsstatus sie in der Schweiz haben.
Durch die Ratifizierung der Kinderrechtskonvention (KRK) ist die Schweiz dazu verpflichtet, das Kindeswohl aller hier anwesenden Kinder vorrangig zu berücksichtigen – unabhängig ihrer Herkunft oder ihres Aufenthaltsstatus (Art. 3 KRK). Kindern, die nicht in ihrer familiären Umgebung leben, ist zudem besonderer Schutz zu gewähren (Art. 20 Abs. 1 KRK). Aus Sicht der SBAA ist es für die Umsetzung dieser Verpflichtungen nicht nur notwendig, zu erfassen, wie viele Minderjährige aus der staatlichen Obhut verschwinden. Es ist auch wichtig zu prüfen, ob Muster bestimmter Zeitpunkte, Altersgruppen oder sonstiger Umstände des Verschwindens erkannt werden können. Erst dann können mögliche Lücken in der Betreuung, Schwierigkeiten im Verfahren oder Gefahren von Kinder- bzw. Menschenhandel erkannt werden.
Ein Kind verschwindet – und dann?
Nebst der unvollständigen statistischen Erfassung von verschwundenen Kindern stellt sich die Frage, was konkret geschieht, wenn ein Kind aus einem BAZ verschwindet. Gemäss Auskunft des SEM werden alle Minderjährigen, die nach 24 Stunden nicht zurückkehren, polizeilich ausgeschrieben. Darüber, wer die Meldung an die Polizei zu tätigen hat, besteht gemäss Auskunft von einer im Asylbereich vernetzten Organisation allerdings Uneinigkeit. So würden je nach Asylregion und Zentrum die Meldungen durch SEM-Mitarbeitende, Betreuer*innen, Vertrauenspersonen oder Sicherheitsangestellte gemacht.
Teilweise werden zudem die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) involviert. Gemäss SEM wird dies bei Hinweisen auf eine Selbst- oder Fremdgefährdung einer minderjährigen Person immer gemacht. In diesem Fall werde die polizeiliche Ausschreibung ohne Wartefrist veranlasst und der Polizeinotruf kontaktiert. Ob und wann die KESB sonst informiert werden, scheint in den unterschiedlichen BAZ allerdings uneinheitlich gehandhabt zu werden und nicht gänzlich geklärt zu sein. Ob und welche weiteren Stellen informiert werden – z.B. bei Verdacht auf Menschenhandel – , hängt gemäss SEM von den «konkreten Umständen» ab. Was dies in der Praxis bedeutet, bleibt unklar.
Unterschiedliche Abläufe und Zuständigkeiten, gekoppelt mit der unvollständigen statistischen Erfassung, erschweren die systematische Beobachtung und somit auch die Analyse, weshalb Minderjährige aus dem Asylbereich verschwinden. Beides wäre aber notwendig, um das vorrangige Interesse des Kindes für alle in der Schweiz lebenden Kinder sicherstellen zu können. Dies ist insbesondere bedeutsam, wenn man bedenkt, dass eine reale Gefahr von Ausbeutung und Kinderhandel besteht. Ansonsten macht sich die Schweiz mitverantwortlich dafür, wenn Kinder und Jugendliche in solche prekäre Situationen hineingeraten.
Die SBAA fordert, dass in der Statistik genauere Informationen der «unkontrolliert abgereisten» minderjährigen Asylsuchenden erfasst werden. In allen Bundesasylzentren sollen Abläufe und Verantwortlichkeiten vereinheitlicht und alle involvierten Akteur*innen Kenntnis davon haben. Auf interkantonaler und internationaler Ebene müssen die Kindesschutzbehörden dieses Thema verstärkt angehen, um einen lückenlosen Kindesschutz zu gewährleisten. Alle Beteiligten müssen ihre Verantwortung der KRK wahrnehmen und alle hier anwesenden Kinder schützen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Aufenthaltsstatus.
Serie: Wer ist in der Schweiz für die Einhaltung der Kinderrechte verantwortlich?
Teil 1: Übergeordnetes Kindesinteresse – Aufsicht und Verantwortung, 30.03.2021